Nachholen von Schulabschlüssen an Volkshochschulen in Sachsen
Unabhängig von ihrer Herkunft sollen Menschen in ganz Sachsen die Möglichkeit erhalten, Schulabschlüsse wohnortnah, kostenfrei und ihren Bedürfnissen entsprechend zu erwerben. Die sächsischen Volkshochschulen haben ein Konzept entwickelt, um das bestehende System des zweiten Bildungswegs im Bereich der Haupt- und Realschulabschlüsse sinnvoll zu ergänzen. Sie leisten damit einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit und zur Arbeits- sowie Fachkräftesicherung in Sachsen. Die spezifischen Herausforderungen für Migrantinnen und Migranten werden in diesem Zusammenhang besonders in den Blick genommen, da deren gelingende Integration einen maßgeblichen Wirtschaftsfaktor darstellt.
Vor diesem Hintergrund fordert der Sächsische Volkshochschulverband für die nächste Legislaturperiode eine Landesinitiative zum Nachholen von Haupt- und Realschulabschlüssen an Volkshochschulen. Im Rahmen der Initiative sollen ab 2025 Pilotvorhaben in mindestens drei Städten und Landkreisen umgesetzt und evaluiert werden.
Ausgangssituation I: Überdurchschnittlich viele Zugewanderte ohne Hauptschulabschluss bei gleichzeitig hoher Nachfrage nach Arbeits- und Fachkräften
Ein erfolgreicher Schulabschluss ist eine zentrale Voraussetzung für persönliche Weiterentwicklung, gesellschaftliche Teilhabe und berufliche Integration. Angesichts der aktuellen Arbeitsmarktsituation und des akuten Fachkräftemangels in Deutschland gewinnt der Schulabschluss zusätzlich an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Er ist die Basis für eine nachhaltige Beschäftigung. Gleichwohl gibt es zahlreiche Menschen in Sachsen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht über einen Schulabschluss verfügen. Der Anteil von Migrantinnen und Migranten ist dabei besonders hoch.
* Quelle: Sächische Staatsregierung 2022; Kleine Anfrage Drs.-Nr 7/9985
Vergleichswert Gesamtbevölkerung (15-65 Jahre): 2%
* Quelle: Bundesagentur für Arbeit, RD Sachsen 2022; Anteil Menschen ohne Hauptschulabschluss
* Quelle: Bundesagentur für Arbeit, RD Sachsen; ELB-Statistik 2022; ohne Empfänger nach Asylbewerberleistungsgesetz
Die Zahl der Menschen ohne Schulabschluss in Sachsen ist in den vergangenen zehn Jahren um fast ein Drittel angestiegen. Dies steht vermutlich im Zusammenhang mit den zunehmenden Migrationsbewegungen seit dieser Zeit. Menschen mit Migrationshintergrund und ohne Schulabschluss sind generell stärker von Arbeitslosigkeit betroffen und haben ein höheres Risiko, über längere Zeit in Arbeitslosigkeit zu verbleiben. Bundesweite Zahlen zeigen, dass mit Blick auf die Gesamtbevölkerung nur etwa die Hälfte aller Menschen ohne Schulabschluss erwerbstätig ist. Gleichzeitig werden Arbeits- und Fachkräfte gerade in Sachsen dringend gebraucht: Nach Prognosen der Bundesagentur für Arbeit stehen dem sächsischen Arbeitsmarkt bis 2030 fast 180 000 Menschen weniger zur Verfügung als noch 2020.
Bei der Lösung dieser Herausforderung kommt passgenauen Angeboten zur Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten eine besondere Bedeutung zu.
Ausgangssituation II: Angebote des zweiten Bildungswegs decken nur einen Teil der Bedarfe
Gesetzliche Grundlage für das Nachholen von Schulabschlüssen in Sachsen ist das Schulgesetz. Abendoberschulen sind dabei als Teil des staatlichen Schulsystems zentrale Instrumente des zweiten Bildungswegs. Darüber hinaus gibt es verschiedene andere Möglichkeiten, nachträglich einen Haupt- oder Realschulabschluss zu erwerben. Dies kann einerseits über eine Schulfremdenprüfung erfolgen, bei der Menschen in der Regel in Bildungseinrichtungen vorbereitet werden und an der Prüfung einer Regelschule teilnehmen. Andererseits können Schulabschlüsse unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Erwerb eines Berufsabschlusses anerkannt werden.
Aktuell bestehende Möglichkeiten zum Nachholen von Haupt- und Realschulabschlüssen in Sachsen
Abendoberschulen
Aktuell ca. 2000 Schülerinnen und Schüler; Teilzeitmodell ergänzend zur Berufstätigkeit
Produktionsschulen
Elf Schulen mit jeweils bis zu 24 Lernenden; Vollzeitmodell in Kombination mit praktischer Tätigkeit; Finanzierung durch ESF-Mittel
Produktionsschulen
Elf Schulen mit jeweils bis zu 24 Lernenden; Vollzeitmodell in Kombination mit praktischer Tätigkeit; Finanzierung durch ESF-Mittel
Produktionsschulen
Elf Schulen mit jeweils bis zu 24 Lernenden; Vollzeitmodell in Kombination mit praktischer Tätigkeit; Finanzierung durch ESF-Mittel
Mit den vorhandenen Strukturen besteht in Sachsen ein Grundangebot im Bereich der nachholenden Bildung. Dieses Grundangebot ist jedoch quantitativ nicht ausreichend und wird nur sehr bedingt den Bedürfnissen von Menschen ohne Schulabschluss gerecht, vor allem im Hinblick auf Anfahrtswege, Kinderbetreuung oder Präsenzzeiten.
Insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund können die Angebote oft nur mit zusätzlicher spracherwerblicher Betreuung nutzen. Ihnen fehlen zudem häufig die Voraussetzungen, um eine Ausbildung ohne die erforderlichen fachlichen Vorkenntnisse erfolgreich zu meistern.
Warum eine Volkshochschul-Initiative? Neue Modelle als Grundlage für nachhaltige Beschäftigung und Chancengerechtigkeit in Sachsen
Sachsen ist neben Brandenburg das einzige Bundesland in Deutschland, in dem Angebote der nachholenden Bildung nicht strukturell an Volkshochschulen verankert sind. Mit einem Engagement der Volkshochschulen kann in Sachsen ein stabiles Netz der nachholenden Bildung etabliert werden, welches die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Adressatinnen und Adressaten berücksichtigt. Perspektivisch können die Volkshochschulen mit ihrer flächendeckenden Präsenz und Expertise zudem eine Koordinierungsfunktion einnehmen.
Mit den 15 Volkshochschulen und deren 48 Standorten verfügt der Freistaat Sachsen über ein kommunal verankertes und flächendeckendes Instrument zur Umsetzung von Bildungsangeboten. Die Integration von Zugewanderten ist eine Kernkompetenz der Volkshochschulen. Sie haben belastbare Netzwerke vor Ort und genießen hohes Vertrauen bei Menschen, die nach Deutschland kommen. Mit Angeboten zum Nachholen von Schulabschlüssen können verlässliche Übergänge in den Arbeitsmarkt geschaffen werden.
Ausrichtung und Besonderheiten
Volkshochschulen stehen für qualitätsgeleitete und flächendeckende Bildungsangebote, eine stärkenorientierte Lernkultur sowie innovative Bildungskonzepte.
Mit einem Angebot zum Nachholen von Schulabschlüssen, das insbesondere auf die Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund sowie Menschen mit besonderem Sprachförderbedarf ausgerichtet ist, bieten Volkshochschulen eine notwendige und sinnvolle Ergänzung des bisherigen Systems.
Die Volkshochschulen sind mit dieser Zielgruppe eng vertraut, kennen Bedarfe sowie Angebotsstrukturen und haben eine hohe Expertise bei der Förderung von sprachlichen Kompetenzen. Gleichzeitig steht das Bildungsangebot allen offen. Damit können auch Menschen, die eine Schule in Deutschland ohne Schulabschluss verlassen haben, über einen inklusiven Ansatz sowie Binnendifferenzierung adressiert werden.
Wohnortnahe Angebote erfordern ein dichtes Netz von Orten, an denen die Vorbereitung auf einen Schulabschluss erfolgt. Dieses Netz kann mittelfristig folgende Städte umfassen:
- Annaberg-Buchholz
- Bautzen
- Borna
- Chemnitz
- Dresden
- Freiberg
- Görlitz
- Leipzig
- Meißen
- Pirna
- Plauen
- Torgau
- Zwickau
Eine Pilotierung in ausgewählten Regionen (mindestens drei Städte und Landkreise) erscheint zur Erprobung des Modells sinnvoll. Mittelfristig könnten an jeder Volkshochschule zwei Kurse eingerichtet werden.
Die geplanten Angebote der Volkshochschulen sind auf den Hauptschulabschluss und den Realschulabschluss ausgerichtet und umfassen in der Regel Lehrgangszeiten im Umfang von zwei Jahren in Vollzeit (ca. 1.000 Stunden Fachunterricht plus spracherwerbliche sowie sozialpädagogische Unterstützung). Der Fokus liegt dabei auf Menschen mit besonderem sprachlichen Förderbedarf. Die angebotenen Fächer orientieren sich an den notwendigen Prüfungen zum Erwerb der jeweiligen Abschlüsse entsprechend der Schulordnung für Ober- und Abendoberschulen.
Die Lehrgänge nehmen Rücksicht auf die Lebenssituation der Adressatinnen und Adressaten. Sie sind für die Teilnehmenden kostenfrei. Durch die Umsetzung an den Volkshochschulen werden verbindliche Qualitätsstandards sowie eine sachsenweite Kompatibilität der Angebote gewährleistet.
Die Angebote zeichnen sich insbesondere durch folgende Merkmale aus:
- hohe Sprachsensibilität sowie sprachliche und sozialpädagogische Unterstützungsangebote
- Kurse mit bis zu 15 Teilnehmenden als Vorbereitung auf die Schulfremdenprüfung
- Präsenz überwiegend am Vormittag, um den Teilnehmenden Kinderbetreuung zu ermöglichen
- optionale Vorbereitung und Begleitung in entsprechenden Kursen, z.B. zur Alphabetisierung und Grundbildung
- modularisierter Unterricht in fächerbezogenen Blöcken
- projektorientierte Formate zur vertieften Auseinandersetzung mit spezifischen Schwerpunkten
- Implementierung digitaler Formate sowie hybrider Unterrichtsformen (synchron/asynchron)
- inhaltliche Schwerpunktsetzung in den Bereichen Medienkompetenz und politische Bildung
- Nutzung von Synergieeffekten durch Zusammenarbeit mit Regelschulen (Infrastruktur)
Finanzierung
Die Finanzierung muss unabhängig vom Weiterbildungsgesetz und der Weiterbildungsförderungsverordnung erfolgen. Mittelfristig ist eine Verankerung im Schulgesetz anzustreben. Eine projektbasierte Finanzierung ist für die Erprobungsphase geeignet, kann aber keine Lösung zur Sicherstellung eines dauerhaften und nachhaltigen Angebotes sein.
Auf Basis einer Erstkalkulation ist von Kosten in Höhe von 150 Euro pro UE auszugehen. Berücksich-tigt sind darin alle Aufwendungen für Lehrkräfte, Verwaltung, Infrastruktur und Projektorganisation.
Daraus ergeben sich pro Pilotvorhaben Kosten in Höhe von etwa 250.000 Euro (je Kurs mit bis zu 15 Teilnehmenden) zzgl. Lehrmittel und wissenschaftlicher Begleitung. Möglichkeiten der Co-Finanzierung durch die Bundesagentur für Arbeit oder die Jobcenter sind zu prüfen.
Ansprechpartner
Jens Kaltofen und Mathias Repka
Sächsicher Volkshochschulverband e.V.
Bergstraße 61
09113 Chemnitz
Tel. 0371 35427-50
E-Mail: info@vhs-sachsen.de
Hintergrund
Das Konzept wurde von einer Arbeitsgruppe der sächsischen Volkshochschulen im Zeitraum Januar 2022 bis Oktober 2023 erstellt. Dazu wurden öffentlich zugängliche Daten analysiert, Gespräche mit Stakeholdern aus Sachsen und anderen Bundesländern geführt sowie statistische Daten der Bundesagentur für Arbeit (Regionaldirektion Sachsen) und die Ergebnisse einer kleinen Anfrage an die Sächsische Staatsregierung einbezogen.
Foto: iStock/Ridofranz