Der Wert von Weiterbildung

Interview mit Frau Professorin Dr. Sabine Schmidt-Lauff

Sabine Schmidt-Lauff ist Professorin für Weiterbildung und lebenslanges Lernen an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in den Bereichen Professionalisierung von Erwachsenenbildung, international-vergleichende Forschung zum lebensbegleitenden Lernen sowie zu Fragen von Zeit und Temporalität im Lernen Erwachsener. Von 2008 bis 2016 war sie als Professorin an der Technischen Universität Chemnitz tätig und in dieser Zeit auch Mitglied im Vorstand des Sächsischen Volkshochschulverbandes. Auf dem Weiterbildungsforum Weiterbildung 2022 in Moritzburg hat sie unter dem Titel „Wider Benefits of Learning“ darüber gesprochen, wie man die sächsische Weiterbildungslandschaft ‚vermessen‘ und verstehen kann. Einige Kernpunkte daraus erörtern wir mit ihr im Interview.

Frau Professorin Schmidt-Lauff, welche Rolle spielt die Erwachsenen- und Weiterbildung rein quantitativ im gesamten Bildungssystem in Deutschland – zum Beispiel im Hinblick auf Teilnehmende und Beschäftigte?

Laut statista.de (Bundesamt 2021) hat die Erwachsenen- und Weiterbildung bundesweit ca. 26,3 Mio. Teilnehmende pro Jahr. Wenn man als Vergleich die Zahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen heranzieht, dann sind das im selben Zeitraum bundesweit lediglich 8,4 Mio. Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen sowie 2,35 Mio Berufsschüler:innen. Interessant dabei ist aus meiner Sicht besonders, dass  – bei trotz der stetigen Betonung des beruflichen Lernens – von den 26,3 Mio. Teilnehmenden lediglich 6,2 Mio. an beruflicher Weiterbildung teilnehmen  – alle anderen finden sich in Themenfeldern der Politischen Weiterbildung, Gesundheitsbildung, Kulturellen Weiterbildung, Grundbildung, Umweltbildung und und und. Es sind also weniger als ein Viertel aller Teilnehmer:innen – oder umgekehrt gesprochen: Drei Viertel aller Teilnehmenden besuchen Themen der allgemeinen, kulturellen, politischen, gesundheitlichen, ehrenamtlichen etc. Weiterbildung.

Mit den Worten des Direktors des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE), Josef Schraders: „Die Erwachsenen- und Weiterbildung ist in Deutschland inzwischen nach der Zahl der Teilnehmenden, der Organisationen und auch nach der Zahl der Beschäftigten der größte Bildungsbereich […]“ (Schrader 2019, 702).  So bieten laut wbmonitor etwa 50.000 öffentlich-rechtliche, gemeinwohlorientierte und privat-kommerzielle Einrichtungen Weiterbildung an. Hinzu kommen etwa 2 Mio. sogenannte ‚weiterbildungsaktive Betriebe‘. Wagt man hier einen Vergleich mit Organisationen wie den 44.306 allgemein- und berufsbildenden Schulen oder den 427 Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland, so erscheint die Menge an Orten bzw. Organisationen, in denen Weiterbildung stattfindet, eingebunden und angeboten wird, beträchtlich. Selbst ohne den innerbetrieblichen und ehrenamtlichen Bereich hat die Erwachsenen- und Weiterbildung ca. 700.000 pädagogisch Beschäftigte, wenn man das nebenberufliche Personal mit einbezieht, davon ca. 530.000 Lehrkräfte.

Nach den oft als schwierig und aufgrund der Umstellung zu digitalen Formaten auch kritischen Einschätzungen zur Entwicklung, zeigt sich bei den Anbietern der sogenannten Allgemeinen Weiterbildung (der wbmonitor des BIBB zählt hier Anbieter mit überwiegenden Einnahmen von Teilnehmenden bzw. Selbstzahlenden) mittlerweile eine klare Aufhellung der Wirtschaftsstimmung und durchaus positive Gesamteinschätzung (wbmonitor 2021).

Der Wert von Weiterbildung lässt sich nicht ausschließlich an Unterrichtseinheiten oder Teilnehmendenzahlen bemessen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von „Wider Benefits of Learning“. Welche sind das und wie kann man sie sichtbar machen?

Um die vielfältigen Wirkungen von Weiterbildung auf gesellschaftlicher, sozialer, ökonomischer, wie individueller Ebene sichtbar machen zu können, ist es hilfreich, die sogenannten wider-benefits-of-learning zu betrachten: Damit  ist der „weitergehende Nutzen“ oder auch „umfassendere Vorteile des lebensbegleitenden Lernens“ wie es z.B. die OECD ausdrückt, gemeint: Glück, Zufriedenheit, Gesundheit, Widerstandsfähigkeit – aktuell häufiger zu hören ‚Resilienz‘ – durch Weiterbildung, optimistische Zukunftseinstellungen bis hin zum kompetenten Internetverhalten in einer digitalisierten und einer von multiplen Dauerkrisen gebeutelten Gesellschaft. Dies alles sind extrem wertvolle, unverzichtbare Leistungen der Erwachsenenbildung und der individuell Lernenden, die anders unsichtbar bleiben!

Konkret bedeutet das ein Wohlbefinden nicht nur durch die Abwesenheit von körperlichen oder psychischen Krankheiten, sondern als ein ‚well-being‘ (Wohlbefinden) und eine Lebensqualität, die sich unter anderem – wenn man jetzt auf Bildung und Weiterbildung schaut – in der lernenden Verwirklichung des eigenen (einzigartigen) Potenzials bezogen auf die eigenen inneren Bedürfnisse (Gefühle) und das eigene Selbst (Sein), im Kontakt mit anderen wie der Umwelt zu beschreiben. Ein solches well-being ist kein Selbstzweck, sondern drückt sich in der Verantwortung für die „natürlichen, wirtschaftlichen, menschlichen und sozialen Systeme“, die mich rahmen und umgeben aus. Es geht also sowohl um unsere individuelle, subjektive Erfahrung des Wohlbefindens, des Erlebens von Freude, positiven Emotionen und persönlicher Erfüllung; wie auch um unsere Umwelt, die und das andere, äußere Bedingungen, die es uns ermöglichen, unser Potenzial voll auszuschöpfen und uns zu entfalten. Beides steht in einem Wechselverhältnis und führt letztlich (so die Idee, Vision dahinter), dass wir umgekehrt unsere Verantwortung wahrnehmen und die sich dynamisch wechselnden Herausforderungen (Krisen) mit-gestalten. Diese beiden Ansätze sind also nicht isoliert voneinander zu verstehen, sondern bedingen sich gegenseitig.

Da die einzelnen Menschen den verschiedenen Aspekten ganz unterschiedliche Bedeutung beimessen, ist es sinnvoll well-beingeher als Rahmen für die Betrachtung der wider-benefits-of-learning denn als feste Definition zu verstehen. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass Wohlbefinden nicht per se quantifiziert werden kann.

All diese Überlegungen sind mir deshalb wichtig, weil uns dauerhaft die Fragen nach der Rolle und Funktion – letztlich der Wirkung und Legitimation von Weiterbildung – beschäftigen: Wie machen wir sichtbar und schützen wir z.B. im „Bildungsland Sachsen“ den Beitrag des lebenslangen Lernens in seiner ganzheitlichen Wirkungsbreite und nicht reduziert auf employability, ‚Vernutzung‘ im Berufskontext? Meine Idee dabei ist: Den Wert von Weiterbildung für gesellschaftliche wie individuelle Entwicklung als Leitidee setzen und entsprechend umfassend betrachten (nicht nur in Zahlen und Daten wie Eingangs vermessen!). Wirkungen von Lernen (auch und besonders im Erwachsenenalter) sind immer ganzheitlich. Der Nutzen von Bildung und Lernen ist immer sozial und individuell, gesellschaftlich, ökonomisch und persönlich (“Benefits of Education Are Societal and Personal“ ; https://www.uopeople.edu/blog/benefits-of-education-are-societal-and-personal/ ).

Zugleich liegt in jedem Lernangebot auch immer eine Bildungszumutung (und das ist positiv gemeint!), d.h. unhintergehbar ein freiheitliches Moment der Lern-Folge-Entscheidung: Gerade Erwachsene Lernende kommen mit einer eigenen Biografie, haben ihre ganz eigene Art eine Verbindung von Neuerfahrenem und „Vorgemeinten“ (Husserl) herzustellen, Neues zu hinterfragen oder an Bekanntes anzuschließen, Altes zu über Bord zu werfen, zu Verlernen und neues Dazu-Zu-Lernen. Bildung bedeutet sich und anderen zu begegnen, sich Themen, anderen Menschen und fremden Blickwinkeln zu öffnen (oder eben auch nicht). Erwachsenen- und Weiterbildner:innen können hiervon ein Lied singen – umso mehr ist es unsere Verantwortung, solche ORTE des Suchens: Lernwelten als SUCHBEWEGUNGEN anzubieten, zu erhalten und zu sichern!

Dabei geht es um die großen Fragen zur Zukunft unserer Gesellschaft, wie wollen wir leben und welche Rolle soll Weiter-Bildung dabei haben?

Wie stellt sich die Finanzierung der Weiterbildung dar und wo liegen die ‚versteckten‘ Ressourcen?

Die Finanzierungsfrage für die Erwachsenenbildung/Weiterbildung ist eine nicht einfach zu beantwortende, weil man es mit einer komplexen Ausgangslage zu tun hat: Mehrfachquellen – gerade auch für Träger der Allgemeinen Weiterbildung – kommen nämlich dabei immer zum Tragen. Die Finanzierungsanteile verteilen sich dabei, wie man aus den Strukturinformationen der wbmonitor Umfrage 2019 erkennen kann, sehr unterschiedlich.

Mir ist es an dieser Stelle aber wichtig darauf hinzuweisen, dass Finanzierung ganz und gar nicht nur in einem monetären Sinne zu verstehen ist. In einem realen Sinne geht es nämlich gerade im Erwachsenenalter, mit seinen vielfältigen Aufgaben und alltäglichen Verantwortungen, vor allem um die Verfügbarkeit über Ressourcen. Ressourcen für Bildung reichen dabei von monetären Ressourcen (Geld, Haushaltseinkommen), über psychische (Interesse, Motivation, Ehrgeiz u.a.), physische (Infrastruktur, Gebäude, sächliche Ausstattungen etc.), bis zu zeitlichen Ressourcen (Familien-, Arbeitszeit, Freizeit). Hier ist die Frage, worauf die Individuen, die Institutionen, Bildungsorganisationen zurückgreifen können und wie die Gesellschaft das wertschätzend rahmt.

Die Bedeutung der individuellen insbesondere der zeitbezogenen Ressourcenaufbringung hat sich auch in der Moritzburger Deklaration niedergeschlagen, die ganz deutlich die Option der Bildungsfreistellung auch endlich für Sachsen fordert.

Gern möchten wir mit Ihnen noch konkret über die Volkshochschulen sprechen. In einem Bericht einer großen deutsche Tageszeitung war neulich zu lesen, dass Volkshochschulen wohl eine der am meisten unterschätzten Einrichtungen in Deutschland sind. Auf welche Entwicklungen und Erfolge der vergangenen Jahre können Volkshochschulen besonders stolz sein – und wo liegen auch innovative Entwicklungsmöglichkeiten?

Ich habe einmal in einem Interview mit der ZEIT gesagt, dass die Volkshochschulen die Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind, die „immer am Puls der Zeit sind“. Das ist aus meiner Sicht auch tatsächlich und weiterhin so. Egal in welcher ‚Großkrisenlage‘ – die Volkshochschulen reagieren inhaltlich, thematisch, didaktisch und in ihren Formaten (zuletzt z.B. in Corona über digitale Angebote) jeweils auf die sich wandelnden gesellschaftlichen wir individuellen Lernbedarfe. Sie sind die Übersetzer von Bildungsinteressen und Lernbedarfen in konkrete, sehr kreativ unterschiedliche Weiterbildungsformate. Dies ist Sinnstiftung und Raum für Kontinuität und Orientierung in einer hoch divergenten, an vielen Stellen meines Erachtens für den/die Einzelne hochgradig (über)fordernden dynamischen Welt.

Zugleich geben die Volkshochschulen auch eigene Impulse und sind m.E. immer dort besonders gut und attraktiv, wo sie netzwerken, sich mit anderen Bildungsträgern und Anbietern für Weiterbildung und deren spezifischen Expertise zusammentun. Sie können positive, wertvolle Synergieeffekte erzeugen, wie kaum eine andere Weiterbildungseinrichtung in Deutschland. In diesem ‚Netzwerken‘ haben sie dann nicht mehr alleine sich selbst im Blick, sondern tatsächlich die großen gemeinschaftlichen Lernbedarfe und Bildungsherausforderungen der Bevölkerung vor Ort und darüber hinaus.

Darüber hinaus zeigen sich hier auch (personelle) Kompetenzen in den Volkshochschulen zur unterstützenden, orientierenden wie begleitenden Weiterbildungsberatung. Gerade dieses Feld ließe sich aber für die Zukunft noch sehr viel stärker digital ausbauen und technologisch modernisieren. Was wir eben in der bundesdeutschen Bildungslandschaft verloren haben, ist nämlich eine Online-Beratung mit dem Blick auf das lebensweite Lernen – auf alle Felder und Phasen des Erwachsenenalters, die Lernbedarfe entstehen lassen und Orientierung nötig machen. Eine solche Beratung in einem digitalen Format des ‚easy-in‘ und ‚easy-out‘ gibt es nämlich aktuell nirgendwo mehr.

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